Sprache

Mit den tausenden Objekten in der Wunderkammer sind unzählige Geschichten verbunden. Viele davon erzählen Geschichten aus anderen Kulturen, die wir nicht kennen. Jedes Objekt könnte über die Menschen sprechen, die sie gefertigt, weitergegeben, gesammelt oder ausgestellt haben. Es könnte von seiner ursprünglichen Funktion berichten oder erzählen, wie es im öffentlichen Raum funktionierte, im Kontakt mit den Menschen Emotionen auslöste oder an etwas Vergangenes erinnerte. Beim Betrachten der Objekte der Sammlung wird schnell klar, dass uns nicht alle diese Geschichten bekannt sind. Und bei jedem Besuch in der Wunderkammer fügen die Menschen den Objektgeschichten neue Assoziationen hinzu. Diese sind zunächst für andere unsichtbar. In diesem Kapitel laden wir dazu ein, die Geschichte der Wunderkammer mit den Gedanken der Besuchenden fortzuschreiben. 

Das Potential einer Kunst- und Naturalienkammer ist ihre ‚semantische Offenheit‘. Sie bietet die Möglichkeit, Entdeckungen zu machen, Neuinterpretationen daran anzuschließen und die hinter den Dingen stehenden Legenden als Anknüpfungspunkte für ein Weitererzählen zu nutzen.

Nike Bätzner»Assoziationsraum Wunderkammer«, Halle 2015, S.25f

Zeigt her eure Schuhe...

Eine eigene Teilsammlung der Artificialia – der menschengemachten Dinge – bildet der Schrank mit den »Sachen, so zur Kleidung gehören«. Darunter befindet sich neben Kleidungsstücken aller Art auch eine große Anzahl von Schuhen aus unterschiedlichen Weltregionen wie China, Indonesien, Russland, Indien, Litauen, Türkei, Italien und Holland. Nehmen Sie den Lederschuh genau unter die Lupe, der im Katalog der Wunderkammer aus dem 18. Jahrhundert als »Malabarischer Schuh von rothen Leder« verzeichnet ist.

»Frauen Zimmer Schuhe«

Viele der im Schrank mit der Ordnungsnummer XVII ausgestellten Stücke wurden von Menschen getragen. Darunter können Lieblingsstücke, vielleicht auch ganz persönliche Geschenke, Kleidungsstücke zu offiziellen Anlässen, nützliche Kleidung oder auch Schutzkleidung sein. Hier zeigen sich die Objekte der Wunderkammer von ihrer ganz persönlichen Seite.

Zu Ordnunsgzwecken wurden für die Katalogisierung der Sammlung in den 1990er Jahren Fotos der Frauenschuhsammlung angefertigt. Material, Aussehen, Herkunft und Datierung werden hier notiert. Wie lautet Ihre Geschichte zu den Schuhen? 

Video Poster

Wer schön sein will, muss leiden...

Wie kam der »alte Moscowitische Frauen Zimmer Schuh[e]« in unsere Sammlung? Sehen Sie im Film, was uns der rote Schuh mit dem auffällig hohen Absatz erzählen könnte.

Im Auge des Betrachters

Im Deutschkurs des »Stammtisch Sprache« im Familienkompetenzzentrum haben wir die Prüfungsvorbereitung in die Wunderkammer verlegt. Jeder Besuch stand unter einem anderen Thema. Die Teilnehmerinnen entdeckten Schritt für Schritt das Museum für sich und fügten den Objekten ganz neue Geschichten hinzu:

Puppen sind materielle Objekte, die für die Betrachtenden neben der Information über das Objekt – z.B. Material, Kleidung, Herkunft etc. – auch biografische und emotionale Informationen tragen. Sie machen den Raum sichtbar, den die Objekte der Wunderkammer öffnen können und in denen z.B. Erinnerung, Emotion und Identität verortet sind. Ina stellt die ukrainische Trachtenpuppe Motanka vor. Sie bindet das kulturelle Gedächtnis an ein konkretes Objekt: Die Puppe kann Trägerin perönlicher Erinnerungen sein (weil die Mutter oder Großmutter sie gefertigt hat) und sie funktioniert seit Generationen als Schutzamulett und Symbol für Familie, Fruchtbarkeit und Wohlstand.

Julia zeigt, wie Objekte Erinnerungsorte öffnen, die ganz persönlich definiert werden. Das Schiffsmodell in der Wunderkammer führt sie zur Schatzinsel von Robert Louis Stevenson und nach Odessa.

Was sehen Sie in dem Bekrönungsmotiv?

Gottfried August Gründler hat die Schränke der Wunderkammer nicht nur marmorisiert und damit als sehr wertvoll gekennzeichnet, er hat sie auch mit leuchtenden Gemälden geschmückt. Die jeweiligen Bekrönungsmotive sind ein Wegweiser für die Ordnung in der Wunderkammer. Sie zeigen, welche Objektgruppen in den Sammlungschränken zu finden sind. Die Geschichten, die sie erzählen, geben Fragen auf. Über dem Schrank für die Tiere fällt zum Beispiel der lächelnde Leopard im Bekrönungsmotiv auf. Dass ein Leopard gefährlich ist, war im 18. Jahrhundert auch in Europa bekannt. Warum ließ Gründler das wilde Tier lächeln?

Diese Tigerkatze ist so wild und bösartig, daß sie den wilden Thieren, welche sie überwältigen kan, in das Gesicht springt, ihnen die Augen mit ihren langen und spitzigen Krallen auskratzet, die Haut zerreisset und ihr das Blut aussauget.

Johann Daniel MeyerVorstellung mancherley fremder und seltener Thiere (1748–1756)

Ruth Catherine aus Bangalore in Indien lässt uns an ihrer Interpretation des Tierschranks teilhaben. Sie hat sich den Leoparden, die Schlangen, Echsen und Schmetterlinge genau angeschaut. Das Raubtier kennt sie selbst als sehr gefährlich. Fährt sie zum Beispiel mit dem Auto von Bangalore nach Coimbatore durch den Dschungel, darf sie wegen der Tiere nicht anhalten und das Auto nicht verlassen. Folgen Sie den Pluszeichen im Bild und lernen Sie ihre Geschichte kennen.  

Folgt man dem Gedanken aus Kapitel 1, dass die Wunderkammer unter anderem ein Ort der Gotteslehre und des Marketings für das Hallesche Waisenhaus ist, zeigt das Bekrönungsmotiv eine weitere Geschichte: In der christlichen Ikonographie stehen traditionell Pflanzen, Tiere und auch Farben für bestimmte Personen oder Ereignisse in der Bibel und im religiösen Leben jedes Gläubigen. Die Fledermaus, die zwar fliegt, aber kein Vogel ist, steht für Irrlehren, die Schlange für die Versuchung, der Nachtfalter, der ans Licht strebt und dort stirbt, für Sünde und Begierde. Der Leopard als eines der mächtigsten Tiere hat diese Welt zum Wohl der Menschen besiegt. Über ihm fliegt der Schmetterling, dessen Metamorphose für die Auferstehung und das ewige Leben steht. So oder so ähnlich könnte die Geschichte des Künstlers zu dem Bekrönungsmotiv lauten.

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